Die folgenden Thesen wurden in der Benediktinerabtei Kornelimünster bei Aachen anlässlich einer Arbeitssitzung vom 4. bis 5. Februar 2010 unter Mitwirkung von Ulla Schmidt und Karl-Heinz Oedekoven erarbeitet.
Die Unterzeichnenden begrüßen die spezialisierte ambulante Palliativversorgung nach § 37b SGB V (in Verb. m. § 132d SGB V) als Ergänzung des bestehenden Versorgungsangebots und Beseitigung eines Defizits bei der Versorgung sterbender Menschen. Sie sehen aber auch erheblichen Nachbesserungsbedarf bei der Umsetzung des Gesetzes und der Verwirklichung des politischen Willens. Hierfür wurden die folgenden 13 Aachener Thesen formuliert.
Sterben als Lebensphase zeichnet sich durch den Verlust der leiblichen, psychischen, sozialen und spirituellen Unversehrtheit in unterschiedlichem Ausmaß aus und führt zu einer Abhängigkeit Sterbender von Dritten. Sterbenszeit ist Lebenszeit – auch als letzte Phase einer zum Tode führenden Erkrankung. Der Rechtsanspruch auf SAPV darf Schwerstkranke und Sterbende nicht auf die Notwendigkeit der pflegerischen und medizinischen Versorgung reduzieren, sondern er muss entscheidender Impulsgeber für eine umfassende, ganzheitliche Versorgung sein.
Somit sind Sterbende Schwache und bedürfen der Fürsorge der Gesellschaft und des Staates als Teil der Daseinsvorsorge des Bundes, der Länder und der Gebietskörperschaften. Der Wert der Gesellschaft misst sich nicht zuletzt daran, wie sie mit ihren Schwachen umgeht.
Palliativversorgung ist ein sektorenübergreifendes Zusammenspiel von spezialisierten und nichtspezialisierten Leistungserbringern mit ehrenamtlich und hauptamtlich Tätigen. Spezialisierte ambulante Palliativversorgung ergänzt die bestehenden Versorgungsstrukturen und ist damit abhängig von einer qualifizierten allgemeinen ambulanten Palliativversorgung. Hier bestehen erhebliche Lücken.
Die Strukturen, Qualifikationen und deren Finanzierung in der allgemeinen ambulanten medizinischen wie pflegerischen Palliativversorgung und der Hospizarbeit müssen innerhalb der bestehenden GKV-Strukturen so gestärkt werden, dass sich im Zusammenspiel von spezialisierter und allgemeiner Palliativversorgung ein für Patienten und Angehörige bedarfsgerechtes tragfähiges Netz unter Einbeziehung der ehrenamtlichen Hospizarbeit entwickelt.
Spezialisierte ambulante Palliativversorgung muss multiprofessionell im Team erbracht werden, um den Nöten der Betroffenen und ihrer Angehörigen bedarfs- und bedürfnisgerecht begegnen zu können.
Die Definition des Leistungserbringers von spezialisierter ambulanter Palliativversorgung als Palliative Care Team unter Bezugnahme der internationalen Definition vermeidet Fehlstrukturen und führt zu größerer Eindeutigkeit. Hierzu gehört auch die Einbeziehung von Sozialarbeit, weiteren Therapeuten und Seelsorge, wie dies in der spezialisierten stationären Palliativversorgung selbstverständlich ist.
Ein Palliative Care Team ist eine eigenständige, multiprofessionelle Organisationseinheit fester Mitglieder mit der erforderlichen Sachausstattung und entsprechender Qualifikation.
Für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene muss es eigene spezialisierte Teams geben, um den besonderen Belangen dieser Patientengruppe gerecht zu werden.
Garant qualifizierter ambulanter Palliativversorgung ist nicht die Kontrolle der erbrachten Leistungen, sondern die Qualifikation der Teams. Palliativversorgung basiert auf gegenseitigem Vertrauen.
Die dreifache Unterschrift der Betroffenen auf Muster 63 (SAPV-Verordnungsblatt) ist für Sterbende eine bürokratische Überforderung in einer existentiellen Grenzsituation. Nachfragen, zusätzliche Formulare und Prüfungen dienen weniger dem Ziel einer spezialisierten Versorgung denn deren Verhinderung.
Die Ablehnungen der Kostenübernahme für verordnete SAPV dürfen bundesweit nicht willkürlich, sondern müssen nach einheitlichen, definierten Bewertungskriterien erfolgen, die die gesetzlichen Anforderungen nicht überschreiten und nachvollziehbar sind.
Um zusätzliches menschliches Leid durch eine undurchschaubare Bürokratie zu verhindern, darf die Ablehnung der Kostenübernahme nicht ohne vorherige Rücksprache mit dem Palliative Care Team an die Betroffenen geschickt werden.
Die Palliativmedizin wird bislang von der Forschungsförderung in Deutschland vernachlässigt. BMBF, BMG, DFG, EU und Stiftungen gaben zwischen 2000 und 2005 nur 4,3 Mio € für Forschung oder 1,2% der Gesamtausgaben hierfür aus, während die Aufwände der Krankenkassen für das letzte Lebensjahr der Menschen mehr als 50% der Gesamtkosten der GKV betragen.
Die Forschungsmittel für SAPV, Palliativmedizin, Palliativversorgung und Hospizarbeit wie auch der supportiven Therapien müssen erheblich (Faktor 10-30) gesteigert werden.
Es besteht ein erheblicher Fachkräftemangel im Bereich der spezialisierten Palliativversorgung.
Um die spezialisierte ambulante Palliativversorgung rasch weiterzuentwickeln und um diese langfristig als Leistung flächendeckend anbieten zu können, müssen die Palliative Care Teams dauerhaft die Möglichkeit zur Ausbildung von Mitarbeitern inklusive der dazugehörenden Finanzierung erhalten.
Die fehlenden Verordnungsmöglichkeiten von Laboruntersuchungen, Überweisungen, Einweisungen, Transportscheine und die Verordnung häuslicher Krankenpflege behindern unnötigerweise die tägliche Arbeit der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung gerade in schwierigen Situationen.
Ärzte in Palliative Care Teams müssen in allen Verordnungs- und Versorgungsmöglichkeiten ihren ambulant tätigen Kollegen gleichgestellt werden.
Die fehlenden Möglichkeiten der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung behindern unnötigerweise und verteuern die tägliche Arbeit der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung gerade in schwierigen Situationen.
Die aktuell gültige Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV) muss für eine bedarfsgerechte Versorgung von Palliativpatienten durch Palliative Care Teams novelliert werden. Hierzu gehören u. a. die direkte Abgabe von Betäubungsmitteln an Patienten, eine patientenungebundene Verschreibung von Betäubungsmitteln und die Vorhaltung eines Notfalldepots für Betäubungsmittel in den Räumen des Palliative Care Teams.
Die fehlenden Abgabemöglichkeiten von Medikamenten sowie die fehlende Möglichkeit, Medikamente im Todesfall in den Notfallbedarf des Palliative Care Teams zu übernehmen, behindern unnötigerweise und verteuern die tägliche Arbeit der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung gerade in schwierigen Situationen.
Palliative Care Teams müssen auch nach dem Apothekengesetz mit Apotheken direkt kooperieren dürfen. Das Apothekengesetz untersagt nach §11 (1) grundsätzlich jede direkte Kooperation mit Ärzten. Ausnahme sind u.a. die in § 140a SGB V "Integrierte Versorgung" genannten Verträge.
Die Kooperation von Palliative Care Teams mit Apotheken im Rahmen der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung muss analog den Verträgen nach § 140a SGB V der integrierten Versorgungen gesetzlich verankert werden.
Um eine flächendeckende Versorgung mit SAPV sicherzustellen, bedarf es der Anschubfinanzierung der SAPV. Dies obliegt den Krankenkassen, in deren Budget seit Beginn der SAPV die Gesamtkosten der SAPV eingestellt waren. Die notwendige Anschubfinanzierung kann deshalb nicht zu Lasten der Leistungserbringer erfolgen.
Die für die SAPV vorgesehenen, aber nicht dafür verbrauchten Finanzmittel sollten im Fond nicht für andere Ausgaben, sondern nur für Zwecke der SAPV verwendet werden.
Die Krankenkassen müssen befähigt werden, ihren Auftrag zur flächendeckenden Sicherstellung mit SAPV und SAPV für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene wahrzunehmen. Der hierfür anzulegende Mindestqualitätsstandard sollte eine zügige Etablierung von SAPV begünstigen und ist stufenweise zu erhöhen. Die Qualität der Versorgung hat Vorrang vor dem Ziel der Flächendeckung.
Die SAPV für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene muss parallel zur Erwachsenen-SAPV aufgebaut werden.
Validierte Instrumente für eine sinnvolle Qualitätssicherung der spezialisierten ambulanten Palliativ-versorgung fehlen bundesweit. Die Gefahr, stattdessen quantifizierbare Daten anzuhäufen und daraus nicht zulässige Schlüsse zu ziehen, ist erheblich.
Eine bundesweite Vergleichbarkeit der SAPV mit validierten Instrumenten muss aufgebaut und gewährleistet werden.
Die Vertragsgestaltung und die regionalen Einzelverträge stehen häufig im Widerspruch zum kooperativen Ansatz der SAPV und behindern maßgeblich deren Umsetzung. Eine gemeinsame Interessenvertretung der Leistungserbringer ist dadurch kaum möglich. Diese ist aber entscheidend für die Erreichung der Ziele von SAPV.
Landesweit einheitliche und kassenartenübergreifende Verträge sind geboten. Eine stärkere Einbindung der Ministerien der Länder ist wünschenswert.
Aachen, 5. Februar 2010
Eckhard Eichner, Augsburg
Paul Herrlein, Saarbrücken
Andreas Müller, Dresden
Veronika Schönhofer-Nellessen, Aachen
Thomas Sitte, Fulda